28.05.2024

Zum Mythos „Neutralität“ im Klassenzimmer

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Argumente für couragierte Pädagog*innen

Der Mythos, dass Lehrer*innen zu Neutralität verpflichtet sind, hält sich hartnäckig an deutschen Schulen. Aber woran liegt das? Wie kommt es zu dieser weit verbreiteten Annahme und wie begegnet man dem „Mythos Neutralität“ in praktischen Situationen im Schulalltag?  

Neutralität in der Alltagssprache  

Um diese Fragen zu beantworten, lohnt sich ein Blick in den sprachlichen Kontext des Wortes „neutral“. Synonyme für das Adjektiv „neutral“ sind laut Duden beispielsweise Wörter wie „parteilos“, „sachlich“, „unbefangen“, „unvoreingenommen“ oder „vorurteilsfrei“. Bildungssprachlich wird das Wort „objektiv“ als Beispiel angeführt. Diese Wörter sind eher positiv konnotiert, das heißt, sie erzeugen bei Menschen, die diese Wörter hören, eher gute Assoziationen. Neutralität kann jedoch gefährlich sein, vor allem im Hinblick auf Werteerziehung in der Schule.  

Ein Blick ins Schulgesetz  

Der Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schulen in Mecklenburg-Vorpommern ist im Schulgesetz für unser Bundesland niedergeschrieben. Er lautet:  

„Der Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schulen wird bestimmt durch die Wertentscheidungen, die im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland und in der Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern niedergelegt sind. Zu ihnen gehört eine Kultur des gegenseitigen Respekts und der wertschätzenden Kommunikation, die die Würde der Schülerpersönlichkeit wie der Lehrpersönlichkeit achtet. Ziel der schulischen Bildung und Erziehung ist die Entwicklung zur mündigen, vielseitig entwickelten Persönlichkeit, die im Geiste der Geschlechtergerechtigkeit und Toleranz bereit ist, Verantwortung für die Gemeinschaft mit anderen Menschen und Völkern sowie gegenüber künftigen Generationen zu tragen.“  

Schauen wir uns diese Passage näher an: Es wird zuerst auf das Grundgesetz verwiesen, aus welchem die in der Schule zu vertretenden Werte abgeleitet werden können. Neben den Begriffen „Respekt“, „Kommunikation“ und „Würde“, wird auch das Konzept der Mündigkeit aufgegriffen. Auch Themenbereiche wie Geschlechtergerechtigkeit, Toleranz sowie Verantwortung für Gemeinschaft und Zukunft finden Erwähnung.  

Blicken wir an erster Stelle auf das Grundgesetz, denn hier sind die unveräußerlichen Rechte der deutschen Bürger*innen festgelegt. Grundrechte wie zum Beispiel die unantastbare Menschenwürde, die Meinungsfreiheit oder die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz sind hierbei nicht in Einzelstellung zu sehen, da sie sich oft bedingen oder sich gar Grenzen setzen. Sie liefern also essenzielle Voraussetzungen für die Werteerziehung an Schulen.   

Ein wichtiges Prinzip von (nicht nur) politischer Bildung

Ein strukturgebendes Fundament der politischen Bildung ist der Beutelsbacher Konsens aus den 1970er Jahren. Seine Prinzipien sind noch heute im Zusammenhang mit der Debatte um Neutralität im Klassenzimmer von entscheidender Bedeutung. Auch die Bundeszentrale für politische Bildung verweist in ihrem Selbstverständnis auf den Beutelsbacher Konsens. Der Politikwissenschaftler und Didaktiker Bernhard Sutor (Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), 2002) setzt den Beutelsbacher Konsens in einen Zusammenhang mit schulischer Bildung:  

„Kurz gefasst lauteten die drei Elemente dieses Konsenses: Überwältigungsverbot (keine Indoktrination); Beachtung kontroverser Positionen in Wissenschaft und Politik im Unterricht; Befähigung der Schüler, in politischen Situationen ihre eigenen Interessen zu analysieren. Minimalkonsens hieß - was allen Beteiligten klar war -, dass Dissens in Wissenschaft und Politik und also auch in politischer Bildung selbstverständlich ist. Es ging daher nicht um einen Konsens zwischen den konkurrierenden Konzepten politischer Bildung, sondern um Regeln für die pädagogische Praxis, die unter einem öffentlichen Auftrag steht."

Wenn es also um pädagogische Praxis geht, stehen auch Haltung und Handlung in Beziehung zueinander. Viele Lehrkräfte an deutschen Schulen denken, dass die im Beamtenrecht verortete parteipolitische Neutralität bedeutet, seine eigene Haltung zu verbergen und dies spiegelt sich selbstverständlich in ihren Handlungen wider. Dabei geht es arbeitsrechtlich gesehen jedoch darum, keine einseitige und provokative Parteiwerbung zu machen.  

Was tun bei menschenverachtenden Aussagen?  

Manche Lehrer*innen vermeiden es aufgrund dessen beispielsweise, Position zu beziehen, wenn es um menschenverachtende Äußerungen an der Schule geht. An dieser Stelle sei ausdrücklich hinzuzufügen, dass es sich hierbei oft nicht nur um Äußerungen von Kindern oder Jugendlichen handelt, sondern dass dies auch vom pädagogischen Kollegium ausgehen kann. Menschenverachtung und rechtsextremistisches Gedankengut gehen Hand in Hand miteinander. Der Verfassungsrechtler Michael Wrase (2020) gibt daher zu bedenken:  

„Es kann kein Zweifel bestehen, dass ein klares Bekenntnis gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in unserer Gesellschaft einer solchen Erziehung im Sinne der Werteordnung des Grundgesetzes sowie der Landesverfassungen und Schulgesetze entspricht. Würden sich die Lehrkräfte etwa gegenüber Hass, Ausgrenzung, Diskriminierung und Hetze indifferent verhalten, so gäbe dies mit Blick auf die genannten verfassungsmäßigen Werte Anlass zu erheblicher Sorge. Dann müsste gefragt werden, ob der Bildungs- und Erziehungsauftrag (noch) ausreichend verwirklicht und gelebt wird. Es ist daher geboten, die Gefahren von populistischen und nationalistischen Bewegungen, von Rassismus, gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und Diskriminierung im Unterricht zu thematisieren.“  

Die Landeskoordination von „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ in M-V schließt sich dieser Auffassung und diesem Appell an. Insbesondere Schulen, die die Selbstverpflichtung des Courage-Netzwerks unterzeichnet haben, sollten den „Mythos Neutralität“ hinterfragen und couragiert im Klassenraum und im Lehrer*innenzimmer Position beziehen, wenn menschenverachtende Äußerungen getätigt werden.   

#wirsindnichtneutral                 

Weiterführende Artikel

Bundeszentrale für politische Bildung: Was man sagen darf: Mythos Neutralität in Schule und Unterricht

Bundeszentrale für politische Bildung: Wie politisch dürfen Lehrkräfte sein? Rechtliche Rahmenbedingungen und Perspektiven

Bundeszentrale für politische Bildung: Politische Bildung im Streit um die "intellektuelle Gründung" der Bundesrepublik Deutschland

Gesetzestexte

Grundgesetz

Schulgesetz M-V

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